Ulrike Gruska Freie Journalistin für Osteuropa

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Online-Plattformen im Visier

Wie der Kreml Facebook, Twitter und Google zur Zusammenarbeit zwingen will

Ausländische soziale Netzwerke sind für Russinnen und Russen zu einer wichtigen Nachrichtenquelle geworden. Auf Youtube haben populäre Bloggerinnen und Blogger und regimekritische Medienschaffende ein Millionenpublikum. Die Staatsmacht versucht seit Jahren vergeblich, die Plattformen zur Einhaltung russischer Gesetze zu zwingen. Doch nun hat sie den Druck massiv erhöht: angesichts der Parlamentswahl im Herbst 2021 und der Unterstützung für den vergifteten und später verhafteten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, die sich vor allem online formierte. Gerichte verhängten dutzende Geldbußen, weil die Betreiber sozialer Netzwerke Beiträge nicht löschen, die als verboten gelten – oder weil sie Inhalte staatsnaher russischer Medien wegen „Desinformation“ sperren. Die Duma verabschiedete ein Gesetz, das ausländische IT-Unternehmen mit mehr als 500.000 Nutzerinnen und Nutzern am Tag verpflichtet, Filialen in Russland zu eröffnen. Und die Medienaufsicht verlangsamte zwei Monate lang den Datenverkehr von Twitter – eine deutliche Warnung an andere Plattformen im Land.


Soziale Netzwerke sind in Russland inzwischen – nach dem Fernsehen – die zweitwichtigste Quelle, aus der sich die Bevölkerung über politische Nachrichten im In- und Ausland informiert. Laut einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum vom Februar 2021 erfahren 64 Prozent der Befragten Nachrichten hauptsächlich aus dem Fernsehen, 42 Prozent aus sozialen Netzwerken und 39 Prozent aus Online-Medien. Soziale Netzwerke haben damit Online-Medien als Nachrichtenquelle überholt, mehr als die Hälfte der Menschen in Russland nutzt sie täglich (57 Prozent).

Ausländische Plattformen spielen dabei eine herausragende Rolle: Zwar ist das russische Facebook-Pendant Vkontakte nach wie vor das meistgenutzte soziale Netzwerk im Land (43 Prozent), doch schon unmittelbar danach folgen Youtube (35 Prozent) und Instagram (31 Prozent). Enorm an Popularität gewonnen hat der chinesische Dienst Tiktok (14 Prozent), den heute sieben Mal so viele Menschen nutzen wie noch vor zwei Jahren. Damit hat Tiktok das US-amerikanische Netzwerk Facebook überholt. Auf Facebook (9 Prozent) und Twitter (3 Prozent) hingegen versammeln sich weiterhin die aktivsten Nutzerinnen und Nutzer, also jene, die am häufigsten Inhalte veröffentlichen. Unter den Messengern, die inzwischen fast 70 Prozent der Menschen in Russland zur Kommunikation nutzen, liegt der zu Facebook gehörende Dienst Whatsapp laut einer Umfrage vom März 2020 nach wie vor mit großem Abstand vorn (59 Prozent).

Für Journalistinnen und Journalisten sind internationale Online-Plattformen wichtige Kanäle, um ihr Publikum zu erreichen. Dem Kanal des ehemaligen Sport-Journalisten Juri Dud folgen mehr als neun Millionen Menschen – deutlich mehr als denen der landesweiten staatlichen Fernsehsender. Russlands bekanntester Youtuber veröffentlicht Interviews mit Größen aus dem Musik- und Showgeschäft, aber auch mit scharfen Kritikerinnen und Kritikern des Kreml. Der vergiftete Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gab Dud im Oktober 2020 sein erstes Interview nach der Entlassung aus der Berliner Charité, das zweistündige Video wurde mehr als 30 Millionen Mal aufgerufen. Ähnlich erfolgreich sind Duds Dokumentarfilme über Themen, die das staatliche Fernsehen vernachlässigt: HIV in Russland, das Geiseldrama im nordkaukasischen Beslan oder die Straflager des Gulag (jeweils mehr als 20 Millionen Aufrufe).

Auch andere unabhängige Medienschaffende erreichen über Youtube zum Teil ein Millionenpublikum: die ehemaligen Fernsehjournalisten Alexej Piwowarow und Leonid Parfjonow, die Gründerin des Wirtschaftsnachrichten-Portals The Bell, Jelisaweta Ossetinskaja, die Dokumentarfilmerin Katerina Gordejewa, die für das Online-Portal Meduza einen Videoblog produziert, oder Irina Schichmann, deren Film „Virus des Schweigens“ über staatliche Informationsverbote während der Corona-Pandemie 4,5 Millionen mal aufgerufen wurde. Ebenso wichtig wie für kremlkritische Medienschaffende und Nachrichtenportale sind internationale Plattformen für die politische Opposition: Alexej Nawalnys Stiftung zur Korruptionsbekämpfung zum Beispiel veröffentlicht ihre investigativen Recherchen regelmäßig auf Youtube, der Film über Putins Palast am Schwarzen Meer vom Januar 2021 wurde 117 Millionen Mal aufgerufen. Nawalnys Twitter-Profil haben 2,6 Millionen Menschen abonniert, seiner Facebook-Seite folgen fast 570.000 Menschen.

Gesetze gegen internationale Plattformen

Die russische Staatsführung setzte der Tätigkeit internationaler Plattformen schon vor Jahren einen engen gesetzlichen Rahmen: Sie wurden verpflichtet, persönliche Daten russischer Bürgerinnen und Bürger ausschließlich auf Servern in Russland zu speichern, keine von der Medienaufsicht verbotenen Inhalte mehr anzuzeigen und dem Geheimdienst die Überwachung verschlüsselter Kommunikation zu ermöglichen. Obwohl sich daran kaum eine der Plattformen hielt, beschränkte sich die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor lange auf Gespräche hinter verschlossenen Türen und verbale Drohungen und verhängte ab 2018 vereinzelte, zunächst eher kleinere Geldstrafen (vgl. RSF-Bericht „Alles unter Kontrolle?“, Kap. 7).

Ab dem Sommer 2020 änderte sich das grundsätzlich. Mit Blick auf die Aktivitäten internationaler Plattformen wurden neue Gesetze auf den Weg gebracht: Mögliche Geldstrafen für Anbieter, die in Russland verbotene Inhalte nicht ordnungsgemäß blockieren, wurden um ein Vielfaches erhöht – im Extremfall auf bis zu 20 Prozent des Jahresumsatzes der betroffenen Firmen. Zur Begründung hieß es, ausländische Netzwerke wie Youtube, Twitter, Instagram und Facebook würden nicht genügend Inhalte herausfiltern. Darüber hinaus wurden die Betreiber sozialer Netzwerke verpflichtet, sämtliche Beiträge, die auf ihrer Plattform gepostet werden, zu überwachen und rechtswidrige Inhalte selbständig zu löschen. Juristinnen und Juristen kritisierten die neue Regelung als effektives Instrument, um unbequeme Stimmen zu unterdrücken.

Ein weiteres Gesetz erlaubt es der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor, den Zugang zu Plattformen zu beschränken, die Inhalte russischer Medien blockieren und der Gesellschaft damit „relevante Informationen“ vorenthielten. In der Erklärung zum Gesetzentwurf hieß es, Plattformen wie Twitter, Facebook und Youtube hätten in mindestens 20 Fällen Inhalte staatlicher russischer Medien wie des Auslandssenders RT oder der Nachrichtenagentur Ria Nowosti gesperrt. Einen Tag bevor das Gesetz in die Duma eingebracht wurde, hatte sich die Medienaufsicht bei Google darüber beschwert, dass Youtube den Kanal von Wladimir Solowjow, einem der führenden Journalisten des staatlichen Fernsehsenders Rossija-1, nicht mehr in den automatisch generierten Trendseiten aufführe. Ein weiterer Streit war im September 2020 über einen Film zum Geiseldrama in Beslan entbrannt, den das staatliche Fernsehen als Antwort auf die erfolgreiche Dokumentation des Bloggers Juri Dud produzieren ließ und den Youtube wegen der darin gezeigten Gewaltszenen mit einer Altersbeschränkung versah. Die Medienaufsichtsbehörde, sonst sehr um den Schutz Minderjähriger bemüht, sah darin einen „Akt der Zensur“.

„Freiheit für Nawalny“: Protest in sozialen Netzwerken und auf der Straße

Im Januar und Februar 2021 demonstrierten zehntausende Menschen in mehr als 100 russischen Städten für die Freilassung von Alexej Nawalny. Der Oppositionelle, der nach seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok in der Berliner Charité behandelt worden war, wurde bei seiner Rückkehr nach Moskau am 17. Januar noch am Flughafen verhaftet. Auf Tiktok wurde der Hashtag „Freiheit für Nawalny“ (#свободунавальному) daraufhin zum Trend, entsprechende Videos wurden auf der chinesischen Plattform mehr als 80 Millionen Mal angeschaut. Auch auf dem russischen Netzwerk Vkontakte wurden Informationen zu den Protesten massenhaft geteilt. Die Medienaufsicht ermahnte Tiktok und Vkontakte, Aufrufe an Minderjährige zu gesetzwidrigen Handlungen zu unterbinden. Wenig später bestellte sie Vertreterinnen und Vertreter von Tiktok, Facebook, Telegram und Vkontakte zum Gespräch ein und brachte mehrere Verwaltungsverfahren gegen die Netzwerke auf den Weg.

Seither wurden in etlichen Fällen Geldstrafen wegen des Nichtlöschens verbotener Informationen und der Anstachelung Minderjähriger zu gesetzwidrigen Handlungen verhängt. Im ersten Halbjahr 2021 beliefen sie sich für die russischen Netzwerke Vkontakte und Odnoklassniki sowie das chinesische Videoportal Tiktok auf je drei bis vier Millionen Rubel (ca. 35.000 bis 47.000 Euro). Deutlich höhere Geldbußen sollen westliche Plattformen zahlen: Facebook insgesamt 43 Millionen Rubel (ca. 496.000 Euro), Twitter 27,9 Millionen Rubel (323.000 Euro) und Google 9,5 Millionen Rubel (110.000 Euro). Und dabei wird es nicht bleiben: Ende Juni 2021 leitete die Medienaufsichtsbehörde zehn weitere Bußgeld-Verfahren gegen Google, Telegram, Facebook und Twitter ein, weil diese Inhalte nicht entsprechend staatlicher Vorgaben löschten.

Testfall Twitter: Die Medienaufsicht droht mit Sperrung

Noch einen Schritt weiter ging die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor am 10. März 2021: Sie erklärte, ab sofort die Übertragungsgeschwindigkeit von Twitter-Daten zu verlangsamen, und zwar auf allen mobilen und der Hälfte der stationären Geräte. Die Plattform sei in mehr als 3.000 Fällen der Aufforderung, Inhalte zu löschen, nicht nachgekommen, hieß es zur Begründung. Im Februar hatte sich Roskomnadsor zudem darüber beschwert, dass Twitter einhundert Accounts mit Verbindungen zum russischen Staat oder zur sogenannten Trollfabrik in St. Petersburg gelöscht hatte. Nachdem der Datenverkehr verlangsamt worden war, forderte Twitter Nutzerinnen und Nutzer auf, von Roskomnadsor beanstandete Tweets zu löschen und traf sich zu Gesprächen mit der Behörde. Diese hob die Beschränkungen Mitte Mai auf und zeigte sich zufrieden, dass die Plattform inzwischen mehr als 90 Prozent der beanstandeten Inhalte lösche.

Die Drosselung von Twitter war der erste Fall, in dem das Gesetz über ein abgekoppeltes russisches Internet vom November 2019 angewendet wurde (vgl. RSF-Bericht „Alles unter Kontrolle?“, Kap. 2 und 6). Es verpflichtet Telekommunikations- und Internetservice-Anbieter, staatlich zertifizierte Überwachungstechnik zu installieren, sodass die Behörden den Datenverkehr mithilfe sogenannter Deep Packet Inspection selbst einsehen und lenken können. Unklar ist, wie viele Anbieter diese Technik bisher tatsächlich installiert haben und wie gut sie funktioniert. Als Roskomnadsor am 10. März begann, den Datenverkehr von Twitter zu verlangsamen, fielen gleichzeitig zahlreiche Regierungsseiten sowie die der Behörde selbst aus. Mit rund 700.000 aktiven Nutzerinnen und Nutzern (Stand: November 2020) ist Twitter die in Russland am wenigsten genutzte internationale Plattform. Expertinnen und Experten betrachteten das Vorgehen gegen Twitter deshalb vor allem als Warnung an größere Netzwerke wie Google, Facebook und Tiktok.

Geldstrafen und Prozesse gegen Google wegen Youtube-Videos

Auch zu Google, das die Videoplattform Youtube betreibt, gingen die Behörden zunehmend auf Konfrontationskurs. Am 19. April leitete die Anti-Monopol-Behörde ein Verfahren gegen das Unternehmen ein. Google würde Inhalte und Konten von Nutzerinnen und Nutzern ohne Vorwarnung und ohne Begründung sperren, agiere dabei „undurchsichtig, nicht objektiv und unvorhersehbar“ und schade damit den Interessen des Publikums, so die Behörde. Die Medienaufsicht hatte sich in der Vergangenheit mehrfach darüber beschwert, dass Youtube Inhalte staatlicher oder staatsnaher Medien in Russland sperre oder nicht prominent genug platziere. Dabei ging es 2021 wiederholt um Beiträge über die Corona-Pandemie, etwa bei den russischen Auslandsmedien RT und Sputnik France sowie dem Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki, die Youtube wegen „Desinformation“ sperrte.

In einem weiteren, viel beachteten Streitfall geht es um den orthodoxen TV-Sender Zargrad, der dem rechtskonservativen Oligarchen Konstantin Malofejew gehört. Youtube hatte den Kanal im Juli 2020 mit Verweis auf die Sanktionen gesperrt, mit denen Malofejew wegen der Unterstützung ukrainischer Separatisten seit 2014 belegt ist. Im April 2021 entschied ein Moskauer Gericht, Youtube müsse den Kanal wieder freischalten. Sollte die Plattform dem nicht nachkommen, hätte sie ab dem 20. Mai eine Strafe von täglich 100.000 Rubel (1.093 Euro) an Zargrad-TV zu zahlen, wobei sich diese Summe wöchentlich verdoppeln sollte. Google legte Widerspruch gegen das aus seiner Sicht unverhältnismäßige Urteil ein.

Wenige Tage später, am 24. Mai 2021, verklagte Google selbst die russische Medienaufsichtsbehörde – eine Neuheit, denn bis dahin war das Unternehmen lediglich als beschuldigte Partei oder in Berufungsverfahren gegen Roskomnadsor
aufgetreten. In dem Prozess geht es um Videos, in denen die Medienaufsicht Aufrufe zu nicht genehmigten Pro-Nawalny-Demonstrationen sieht, die Google jedoch nicht blockiert. Wegen des Nichtlöschens verbotener Inhalte wurde Google im Mai zu insgesamt 9,5 Millionen Rubel Geldstrafe verurteilt. Mitte Juni beklagte die Medienaufsichtsbehörde, auf Youtube seien weiterhin mehr als 5.000 gesetzwidrige Beiträge zu finden und in seinen Suchergebnislisten filtere Google rund 30 Prozent des von Roskomnadsor verbotenen Materials nicht heraus.

Staatsmacht will Zugriff auf persönliche Daten

Neben den Auseinandersetzungen um wahlweise nicht oder ungerechtfertigt gesperrte Inhalte reaktivierten die Behörden im Frühjahr 2021 ein weiteres Konfliktfeld mit den Betreibern internationaler Plattformen: die Speicherung persönlicher Daten russischer Nutzerinnen und Nutzer auf Servern innerhalb Russlands. Seit 2015 sind die Unternehmen dazu gesetzlich verpflichtet – nachgekommen ist dem bisher keines von ihnen. Daran änderten auch neuerliche Mahnungen der Medienaufsichtsbehörde und ein Ultimatum bis zum 1. Juli 2021 nichts. Es verstrich unbeachtet, neue Bußgeldverfahren gegen Google, Twitter und Facebook wurden eröffnet. Von Google verlangte Roskomnadsor am 23. Juni – ebenfalls mit dem Hinweis auf den Schutz persönlicher Daten –, die Seite „Kluge Stimmabgabe“ des Unterstützerkreises von Alexej Nawalny zu schließen. Die Aktivistinnen und Aktivisten hatten die Seite auf Server des US-Unternehmens verlegt, um sie vor Zensur zu schützen. Einen effektiven Hebel, um internationale Plattformen zur Einhaltung russischer Gesetze zu zwingen, verspricht sich die Staatsführung von einem Gesetz, das Präsident Putin am 1. Juli 2021 unterschrieb: Es verpflichtet ausländische IT-Unternehmen, die täglich mindestens 500.000 Nutzerinnen und Nutzer in Russland erreichen, spätestens bis zum 1. Januar 2022 ein Büro vor Ort zu eröffnen.

ENDE

in: Alles unter Kontrolle? Internetzensur in Russland – update, August 2021