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Paläste unter der Erde

Marmor, Stuck und Mosaiken: Die ältesten Bahnhöfe der Moskauer Metro sind 75 Jahre alt

MOSKAU. Die Funktionäre auf dem siebten Sowjetkongress staunten nicht schlecht, als im Frühjahr 1935 statt eines drögen Abschlussredners 2500 Arbeiter in Blaumann vor ihnen aufmarschierten. Sie vermeldeten Erfolg: Die erste Linie der prachtvollen neuen Untergrundbahn war gebaut. Am 15. Mai 1935 gab Stalin sie höchstselbst für den Verkehr frei. Heute befördert die Moskauer Metro neun Millionen Passagiere täglich, mehr als die U-Bahnen Londons und New Yorks zusammen. Ihre Stationen gelten als die schönsten Bahnhöfe der Welt, als Paläste unter der Erde.

Es ging ja auch nicht einfach um den Ausbau des überlasteten Moskauer Verkehrsnetzes, damals vor mehr als 75 Jahren. Die neue Metro, so der Plan der Sowjetführung, sollte die Moskauer über all jene erheben, die durch die zugigen Bahnhöfe kapitalistischer Metropolen hasteten. Kunstvolle Wandbilder, Statuen und Skulpturen würden zum Verweilen einladen und die Menschen im Geiste des Sozialismus erziehen.

Doch so hoch der Anspruch an die neue Metro war, so überstürzt begannen die Bauarbeiten. Die logistische Planung war noch nicht weit gediehen, als man im November 1931 den ersten Schacht in die Erde trieb. Mit Spaten und Spitzhacke stiegen Arbeiter unter Tage. Erst im folgenden Jahr untersuchten Geologen den Boden entlang der geplanten Linie, studierten Ingenieure die Erfahrungen anderer Städte beim U-Bahn-Bau.

Das ambitionierte Projekt bündelte die Kräfte des riesigen Landes in der Hauptstadt: Man bestellte Stahl in den Werken von Kusnezk und schaffte Marmor aus dem Kaukasus heran. Ingenieure kamen aus Leningrad und Bergleute aus der Ukraine. Soldaten der Roten Armee wurden zu Arbeitsschichten auf den Bau delegiert, genau wie Brigaden des Jugendverbands Komsomol. Tausende Fabrikarbeiter mussten am Sonnabend "freiwillige Zusatzarbeit" leisten und trafen sich zum "Subbotnik". 70.000 Menschen halfen so beim Bau der Moskauer Metro. Meter um Meter trotzten sie dem ungeeigneten, feuchten Untergrund für die Schächte ab und wetteiferten darin, das geplante Tagessoll zu überbieten, selbst wenn sie sich damit die Gesundheit ruinierten.

Die feierliche Eröffnung der ersten Linie am 15. Mai 1935 wurde zu einem Volksfest in der U-Bahn. Hunderte Arbeiter versammelten sich mit Hacken und Hämmern zur Parade. In den prächtigen Stationen, berichten Augenzeugen, standen Menschen mit Tränen in den Augen und bestaunten die Frucht ihrer schmerzvoll harten Arbeit. Welch ein Gegensatz zum entbehrungsreichen Alltag der 30er Jahre: Die Station Kropotkinskaja etwa erinnerte an einen griechischen Tempel, mit Säulen, die nach oben hin wie Lotusblüten aufgehen und unter der Decke in fünfzackige Sterne münden – eine geschickte Verbindung antiker und sowjetischer Motive. Am Platz der Revolution (Ploschtschadj Revoluzii) waren die Idealbilder derer in Bronze gegossen, die die Sowjetunion aufgebaut hatten: ein Rotarmist mit Schäferhund, eine Bäuerin mit Korngarbe, ein in die Bücher vertiefter Student. In der Majakowskaja fügte sich eine gewagte Konstruktion aus Edelstahl und Marmor zu einer endlosen Bogenreihe und ließ die ohnehin geräumige Haupthalle noch weiter erscheinen.

Im Zweiten Weltkrieg nutzten die Moskauer ihre Metrostationen als Luftschutzbunker. Nach 18 Uhr fuhren keine Züge mehr, die Gleise wurden mit Holz abgedeckt. In den Tunneln, die 30 bis 60 Meter tief unter der Erde liegen, konnte sich fast eine halbe Million Menschen verstecken. Mehr als 200 Kinder wurden während des Krieges in der Metro geboren. In der imposanten Halle der Station Majakowskaja rief Stalin am 6. November 1941 zur Verteidigung des Vaterlands auf. Deutsche Truppen standen zehn Kilometer vor der Stadt, der sowjetische Generalstab hatte sein Hauptquartier unter die Erde verlegt – und die Metro war zum Symbol des Widerstands geworden. Als sie 1941 den Betrieb einstellte und demontiert wurde, weil man Material für die Front brauchte, verließ viele Moskauer die Hoffnung.

Der hart erkämpfte Sieg über die Nationalsozialisten wurde nach dem Krieg zum zentralen Thema beim Metrobau. Die Stationen dieser Zeit gleichen Ruhmeshallen für die Soldaten der Roten Armee und das opferbereite russische Volk: Umrahmt von üppigem barocken Stuck feiern goldglänzende Mosaiken deren Heldentaten. In der Station Nowokusnezkaja ehrt ein Reliefband führende Köpfe der russischen Militärgeschichte, farbenfrohe Bilder erzählen vom industriellen Aufbau des Landes. In der Komsomolskaja hängen riesige Lüster zwischen Mosaiken mit Szenen aus der glorreichen Vergangenheit Russlands und seiner lichten Zukunft.

Heute wirkt die Metro zu Stoßzeiten eher düster: Millionen von Passagieren verschwinden jeden Morgen auf langen Rolltreppen im Untergrund, doppelt so schnell wie in Westeuropa fahren müde Gesichter aneinander vorbei. In gläsernen Kästen überwachen Uniformierte den Verkehr. Pfeile dirigieren den Menschenstrom auf die entsprechenden Bahnsteige – nur nicht stehenbleiben, nur nicht in die falsche Richtung laufen. Im Minutentakt fahren Züge ab, schließen Türen mit unerbittlichem Knall. Kaum einer hat Augen für die prächtigen Mosaiken und den Stuck ringsum. Für manchen Besucher aber, der sich außerhalb der Stoßzeiten in den Untergrund begibt, ist die Moskauer Metro vor allem eines geblieben: ein einzigartiges Museum sowjetischer Bau- und Kunstgeschichte.

Ulrike Gruska ist Autorin des Buches "Zeit für Moskau", erschienen im April 2010 im Bruckmann Verlag, 192 Seiten, 24,95 Euro.

ENDE

in: Märkische Allgemeine Zeitung, 15. Mai 2010