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Das doppelte Dorf

Nur ein Fluss trennt das deutsche Aurith vom polnischen Urad – doch dazwischen liegen Welten

POTSDAM. In Aurith ist Polen nur einen Steinwurf entfernt. Aurith, das sind zwanzig gepflegte Häuschen, ein Briefkasten, zwei Gaststätten, dahinter der Deich und das stille Ufer der Oder. Wer auf dem Fährsteg zwischen den Weiden steht, blickt auf einen identischen Steg am anderen Ufer, auf ein paar Dächer zwischen den Bäumen. Er riecht den Rauch, wenn drüben ein Feuer brennt. Drüben, das ist Urad, die zweite Hälfte des Dorfes. Drüben, das ist Polen, ist eine andere Welt.

„Was soll ich bei den Polskis?“, hatte Thomas Jurke aus Aurith gefragt, als sie ihn das erste Mal ansprachen. Irgendwann waren sie ins Dorf gekommen: Steffen Schuhmann und Tina Veihelmann, zwei Berliner Autoren. Wollten wissen, wie es sich so lebt in Aurith und im benachbarten polnischen Urad. Was sollte Jurke da groß erzählen, von den Polen wusste man doch nichts. Und überhaupt, er war ja nur ein Zugewanderter aus Eisenhüttenstadt, der einen Sägewerkservice in Aurith betrieb.

Früher, vor dem Krieg, da war Aurith ein malerisches Dorf, durch das gemächlich die Oder floss. Auf der einen – heute der deutschen – Seite bestellte man die Felder, weil die Böden dort tiefer lagen. Im Frühling standen sie unter Wasser und trugen im Herbst bessere Ernte. Auf der anderen Seite baute man Häuser, die Dorfschule, den Club. Eine Fähre brachte zweimal täglich Menschen, Kühe und Pferdewagen über den Fluss. Dann kam der Krieg und aus Aurith mit seinen äckern wurden zwei Orte, die eine Staatsgrenze trennte. Im deutschen Teil zimmerten sich die neuen Bewohner Hütten aus Brettern und setzten Granathülsen als Schornsteine darauf. Im polnischen Teil aber, der nun Urad hieß, sprengte man die verlassenen Häuser und transportierte die Steine für den Wiederaufbau in die Hauptstadt Warschau. Die Fähre wurde stillgelegt. Wer heute über den Fluss will, fährt zum Grenzübergang nach Frankfurt. 42 Kilometer sind es bis zum Nachbardorf, dessen Dächer er beim Losfahren sieht.

Da muss es doch etwas geben, dachten sich Schuhmann und Veihelmann, das die beiden Dörfer trotz allem verbindet. Mit übersetzern und Kameras zogen sie los, sprachen jeden an, der ihnen auf der Dorfstraße entgegen kam. Sie stießen auf Geschichten, die sich erstaunlich ähnelten, auf zwei Dörfer, die sich fast parallel entwickelt hatten. Mit Hilfe des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Potsdam haben sie die Ergebnisse ihrer Recherchen in einem Buch zusammengefasst: auf einer Seite Aurith, auf der anderen Urad und dazwischen ein paar Seiten Oderwasser – so wie in Wirklichkeit.

Nicht nur das Schicksal als Vertriebene aus Schlesien oder Zwangsumgesiedelte aus dem polnischen Osten, der seit dem Krieg sowjetisch war, verband die Menschen auf beiden Seiten des Flusses. Mit der gleichen Sturheit setzten sie sich dies- und jenseits der Grenze gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft zur Wehr. In Urad wurde die Genossenschaft 1956 abgeschafft, bevor sie überhaupt richtig aufgebaut war. Jeder Bauer durfte zwar gerade einmal 0,8 Hektar Land behalten, dies aber dafür in Eigenregie bewirtschaften. Auch Aurith wurde Anfang der 60er Jahre zunächst lediglich in eine LPG Typ 1 umgewandelt, in der die Bauern den Boden gemeinsam nutzten, man ihnen aber ihr Vieh ließ. „Sozialismus für Romantiker und Individualisten“, nennt Autorin Veihelmann das.

Der Grenzstreifen vor der Oder war in Urad währenddessen peinlich geharkt, wer an den Fluss wollte, den hätten seine Fußspuren verraten. Aber was sollte man auch am Ufer, es war ohnehin verboten, dort einfach so herumzusitzen. Auf der anderen Seite, in Aurith, patrouillierte eine berittene Kompanie, auch wenn sie kaum je Außergewöhnliches zu berichten hatte. Nach ein paar Jahren wurde sie durch einen einzelnen Posten ersetzt, der das Ufer mit seinem Trabbi abfuhr. Wenn die Aurither trotz des Verbots baden gingen, drückte er ein Auge zu: „Schwimmt nur nicht so weit nach Polen rüber.“ Obwohl sie nicht das Geringste miteinander zu tun hatten, waren die Dorfbewohner angewiesen, jedes Jahr im Frühjahr ein Friedensfeuer auf ihrem Fährsteg anzuzünden. Denn ihre Regierungen nannten den Fluss eine „Friedensgrenze“ und waren einander offiziell in brüderlicher Freundschaft verbunden. Also schichteten Aurither und Urader Holz und Sperrmüll auf den Stegen auf, saßen bis spät in die Nacht ums Feuer, tranken, lachten und winkten hinüber.

Dann waren da die Flüchtlinge, die – wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten – in beiden Dörfern auftauchten und die Bevölkerung spalteten. Ende der 80er Jahre kamen junge Leute aus der DDR über den Fluss nach Urad, fragten in brüchigem Russisch nach dem Weg in den nächsten Ort, von dem ein Zug nach Warschau fuhr. Sie wollten zur deutschen Botschaft und dann weiter in den Westen. Ihre Schlauchboote ließen sie am Ufer zurück, was einige Urader freute. Andere aber radelten umgehend ins Nachbardorf, um beim Grenzschutz Meldung zu erstatten.

Die Flüchtlinge, die auch heute noch gelegentlich in Aurith ankommen, haben einen weiteren Weg hinter sich. Sie stammen aus dem Baltikum, aus Indien oder Afghanistan. Vielen Dorfbewohnern machen die verhärmten, durchnässten Gestalten Angst. Sie rufen den Bundesgrenzschutz und das ganze Dorf ist voll von blinkendem Blaulicht. Anderen Aurithern tun die Illegalen leid, die alles in der Heimat zurücklassen und dann hier verpfiffen werden. So geht eine Kluft durch das Dorf, die sich erst schließt, seit in den letzten Jahren weniger Fremde kommen.

Vertreibung, Kollektivierung, Flüchtlinge – am meisten beeindruckt hat die Autoren neben diesen großen Themen die Geschichte der Gaststätten in Aurith und Urad. Sie beginnt auf der deutschen Seite mit Verkäuferin Silke Thurian, die nach der Wende ihre Arbeit verlor. „Wenn du in einem Laden Wurst verkaufen kannst, kannst du auch aus unserer Garage heraus Wurst verkaufen“, fand ihr Schwiegervater. „Und wenn das geht, kannst du auch ein Restaurant führen.“ Also rüsteten die Thurians den alten Hühnerstall zum Imbiss um. Verdienten ein wenig, bauten an – und führen heute das Restaurant „Bauernstübchen“.

In einem Hühnerstall hat Familie Knebel aus Urad nicht angefangen, dafür in einer selbst gebauten Bretterbude. Auch bei ihnen gingen die ersten Würstchen über einen notdürftig zusammengezimmerten Tresen. Auch Alicja Knebel legte jeden Słoty beiseite, die Holzbude bekam einen Wellblechverschlag und später gemauerte Wände – fertig war die „Bar unterm Birnbaum“. Vor Kurzem haben die Thurians und die Knebels die Wände ihrer Restaurants neu gestrichen – fast zur gleichen Zeit und beide in leuchtendem Grün.

„Ja, wir waren überrascht, als wir erfuhren, dass es den Deutschen da drüben ganz ähnlich geht“, sagt Alicja Knebel. Sie las darüber vor drei Jahren auf großen Stelltafeln. Jede Woche erzählten die Autoren eine andere Geschichte, stellten den Uradern ein Gesicht aus Aurith vor und umgekehrt. Den wortkargen Thomas Jurke, der am Anfang nichts von „den Polskis“ wissen wollte, hatte das Autorenteam längst für sein Projekt gewonnen. Irgend jemand musste ja die Holztafeln für die überlebensgroßen Fotos zimmern – und wer konnte das besser als er? Insgesamt 30 Wandzeitungen sind so entstanden. Als Polen am 1. Mai 2004 in die EU eintrat, wurden sie auf den beiden Fährstegen aufgestellt. Und zwischen den Ausstellungen fuhr für einige Stunden wieder eine Fähre hin und her.

Alicja Knebel, die Chefin der „Bar unterm Birnbaum“ hätte gern wieder so eine Verbindung. „In Aurith gibt’s einen tollen Fahrradweg auf dem Deich, da kommen viel mehr Touristen als zu uns“, sagt sie. Ihre Aurither Kollegen allerdings sind von der Idee einer neuen Fähre nicht ganz so begeistert. Heinz Blümel, der zweite Gastwirt im Ort, überlegt: Man könnte dann drüben Pilze sammeln. Oder sich ein polnisches Mädchen zum Spülen holen. Aber die Deutschen würden sofort nach Polen fahren, um billig einzukaufen – und um ins Restaurant zu gehen. „Dann könnte ich meinen Laden dicht machen“, sagt Blümel. Nicht umsonst hat er seine Gaststätte „Zur alten Fähre“ genannt. Eine neue muss es seinetwegen nicht geben.

Tina Veihelmann: Aurith-Urad. Zwei Dörfer an der Oder. Deutsches Kulturforum östliches Europa, 248 Seiten, 9,80 Euro.

ENDE

in: Märkische Allgemeine Zeitung, 31. März 2007